Das Modell einer Epoche

Mit einer taktischen Meisterleistung zwingt Barcelona den FC Chelsea im Achtelfinale der Champions League in die Knie

BARCELONA taz ■ Er ließ keinen Fluchtweg offen. Hier mussten sie alle vorbei, vom Spielfeld hinunter zu den Umkleidekabinen, breitbeinig versperrte er den Eingang. Seine Hand griff sie sich alle, ob Freund oder Feind. Wenn einer der Fußballer, ganz in Gedanken an das soeben beendete Spiel, seinen Handschlag nicht erwiderte, schlug er ihm die Hand auf die Wange, dem Torhüter des FC Chelsea Peter Cech so fest, dass es einer Ohrfeige glich, obwohl es ein Tätscheln sein sollte.

José Mourinho hatte sich entschieden, einmal ein ehrenwerter Verlierer zu sein. Und wenngleich sein Gratulationsüberfall nach dem Ausscheiden seines FC Chelsea beim FC Barcelona etwas zu demonstrativ ausfiel, so blieb es eine schöne Geste. Bis er sich umdrehte und zum Abschied Barcelonas Fans zynisch Kusshändchen zuwarf.

Es war sein üblicher Cocktail aus Verschwörungstheorien, Wahrheitsverfälschung und Bitterkeit, den Mourinho später nach dem 1:1 servierte. Und schon liefen die Gespräche mit den anderen Protagonisten wieder einmal nur darauf hinaus: „Mourinho hat gesagt … Was sagen Sie dazu?“ Es reicht. Zu viele Journalisten lassen sich auf Mourinhos bitteres Geschwätz ein und rechtfertigen es am Ende noch damit, er führe „Psychokriege“ gegen seine Gegner. Dabei ist er nur ein toller Trainer und eine traurige Gestalt, die im nunmehr zweiten Gastjahr in London noch immer nicht die größten Werte Englands für sich entdeckt hat: Höflichkeit und Selbstironie. Dienstag war ein guter Zeitpunkt, um Mourinhos Unsinn endlich zu ignorieren. Und der Blick wurde frei auf die wahre Erkenntnis einer wundervollen Nacht.

Der FC Barcelona bewies, dass er das Modell dieser Epoche ist. Wer Fußball sehen will, wie er sein soll, sei im Camp Nou willkommen. Das Stadion hob ab, so hoch wurden 99.000 Zuschauer von der Magie von Ronaldinhos Tor zum 1:0 in die Luft gerissen. Durch drei Gegner dribbelte er sich auf engstem Raum hindurch, „und wir waren ja nicht irgendwelche drei“, staunte Chelseas Kapitän John Terry. Das Tor gab dem Spiel den Klecks der Schönheit, für den der spanische Meister zuallererst steht. Doch während das Fernsehen Ronaldinhos Kunststück in fünffacher Wiederholung zeigte, waren es unterdessen andere, die das Spiel wirklich gewannen.

Das Mittelfeld mit Deco, Edmílson und Thiago Motta besetzte Positionen, raubte den Ball und zog los, mit einer Geistesgegenwärtigkeit, mit einer Intensität, dass Chelsea, dieses maschinelle Ungeheuer, qualvoll erstickte. Frank Lampard, Claude Makelele, die besten Mittelfeldspieler der Welt, sagen viele – wie banal sahen sie einen Abend lang aus, in permanente Platz- und Atemnot gebracht von Deco. Als Duell der Gegensätze war Barça gegen Chelsea angekündigt worden, Heiß gegen Kalt, mutiger Angriff gegen zynische Konter. Aber dieses Duell gewann Barça, weil sie das bessere Chelsea sind: Sie spielen, es wird angesichts ihres Anmuts zu leicht übersehen, mittlerweile genauso taktisch exzellent wie Mourinhos Elf. Chelsea, das Monster, ernährt sich von den Fehlern der Gegner. Am Dienstag ließ Barça keinen einzigen Eckball zu, keinen Freistoß in Tornähe. Das passt nicht in die Wirklichkeit der Künstlertruppe, die das Fernsehen mit endlosen Zeitlupen von Ronaldinho kreiert. Es war bloß zehnmal wichtiger als jeder Hackentrick.

Es war mehr als ein Achtelfinale, ein Grundsatzsieg. Im vergangenen Jahr hatte Chelsea Barça mit kalter Präzision aus der Champions League geworfen und, schlimmer, als naive Schönspieler bloßgestellt. „Wir sind reif geworden“, sagte Deco nun. Es ist das Werk eines Trainers. Im Hinspiel, als Chelsea nach einer Roten Karte zu zehnt blieb, hätten fast alle Trainer in der Halbzeit gesagt, wir verrammeln das Mittelfeld und bringen das 0:0 nach Hause, ein tolles Hinspielergebnis. Barças Frank Rijkaard aber hat, was fast alle Spitzentrainer unter dem Druck ihres Berufs verloren: Mut. Er sagte in der Halbzeit: „Das ist eine historische Chance. Wir dürfen die Organisation nicht verlieren, aber wir müssen angreifen. Auf sie drauf!“ Der Rest ist Geschichte.

RONALD RENG